Wissen ist Macht, denn Wissen ermächtigt! Im Lernen liegt die Zukunft!

Antrag der SPD Laage zum ordentlichen Bundesparteig der SPD am 6.- 8. Dezember 2019

21.08.2020

I. Momentane Ausgangslage

Mit der Digitalisierung befinden wir uns mitten in der größten technologischen Revolution aller Zeiten. Trotzdem scheinen wir immer noch die Geschwindigkeit zu unterschätzen, wie schnell und unumkehrbar die Digitalisierung aktuell und zukünftig unser Leben verändert. Ganze Berufsgruppen verschwinden. LKW-Fahrer, Lokführer, Kassiererinnen, Makler, Berufe mit leicht zu automatisierenden Tätigkeiten wird es sehr bald nicht mehr geben. Studien überschlagen sich damit, wie viele Jobs verloren gehen und wie viele gleichzeitig neu in anderen Berufsfeldern und Branchen entstehen - Jobs von denen wir heute noch nicht einmal ihre Namen und Kompetenzbeschreibungen kennen. Fest steht auch: Gewohnte Hierarchien in der Arbeitswelt werden sich verändern. Der Wechsel und Austausch zwischen unterschiedlichen Berufen und Wissensfeldern wird zur Regel werden. Eines steht fest: Deutschland kann künftig nur über die Qualität von Jobs und nicht über die Quantität von Beschäftigten wachsen. Unser Wohlstand entscheidet sich an der Frage, wie produktiv wir Wissen und Erfahrung anwenden. Lebenslanges Auffrischen von Wissen und das Stärken individueller Fähigkeiten sind deshalb die Schlüssel für innovatives Wirtschaften, und auch gegen Populismus, Protektionismus sowie Nationalismus.

Zwar sagen aktuell nahezu alle Unternehmen das lebenslanges Lernen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wichtig für den Unternehmenserfolg sei, aber im Durchschnitt stehen nur 2,3 Weiterbildungstage pro Mitarbeiter im Jahr zur Verfügung. Jedes fünfte Unternehmen gibt an, gar keine Fortbildungen anzubieten. Nur knapp jeder zweite Betrieb in Deutschland unterstützt seine Mitarbeiter finanziell oder durch Freistellungen beim lebenslangen Lernen - ein Wert, der seit Jahren stagniert. Studien der OECD zeigen auf, dass nicht einmal jeder Zweite eine Weiterbildungsmaßnahme in Anspruch nimmt. Und gerade gering Qualifizierte sowie Arbeitslose nehmen nur zu 19 bzw. zu 26 Prozent an berufsbezogener Aus-und Weiterbildung teil. Das IAB stellt zudem heraus, dass gerade Beschäftigte, deren Tätigkeiten durch Technologien ersetzbar sind, sich derzeit seltener weiterbilden. Und das DIW führt auf, dass deutsche Unternehmen im Industrie- und im Dienstleistungssektor bei ihrem Einsatz von Wissenskapital hinter den meisten Wettbewerbern, wie Frankreich, Großbritannien und den USA zurückliegen. Gleichzeitig ist der Modernisierungsgrad des Wissenskapitals in Deutschlands Wirtschaft gering. Was damit korrespondiert, dass weniger als fünf Prozent der Vorstände der 100 größten deutschen Unternehmen planen, in den kommenden Jahren eine substanzielle Erhöhung ihrer Investitionen in betriebliche Weiterbildung vorzunehmen.

Weiterbildung wird ganz offensichtlich durch die Unternehmen nur ungenügend organsiert. Im Prinzip herrscht hier Marktversagen! Mit der Folge, dass die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft - beruhend auf ihren wissensintensiven Industrie- und Dienstleistungsunternehmen - abnimmt und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands immer mehr gefährdet.

2. Ziel

Ergo: Unser Verständnis als Sozialdemokratie ist es, die Verantwortung der beruflichen Weiterbildung nicht länger primär den Unternehmen zu überlassen. Weiterbildung muss zum Regelfall werden. Denn Bildung in all ihren Facetten ist immer mehr von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Hierzu passt auch die Vermächtnisstudie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, die mit dem Klischee der unflexiblen, veränderungsresistenten Deutschen aufräumt. Das Gegenteil stimmt: Über 70 Prozent sagen, dass sie offen sind, ein Leben lang etwas Neues zu lernen. Lebenslanges Lernen ist ein Wert, auf den sich nahezu alle Befragten einigen können.

Wir können Unternehmen mit dieser, der wichtigsten Aufgabe, Deutschland erfolgreich in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts zu überführen, nicht alleine lassen! Wir werden Unternehmen diese Bürde abnehmen und die Organisation von Weiterbildung in breitere Strukturen - umfasst von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Sozialpartnern und Weiterbildungsverbünden - überführen.

Mit Blick auf Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten brauchen wir deshalb neue Ansätze. Vor allem muss es uns darum gehen, die soziale Ungleichheit bei der Weiterbildungsbeteiligung zu beenden. Und: Wir benötigen zukünftig Kreuz- und Querdenker, denn die Fähigkeit für eine neue Lernkultur wird unsere Zukunft bestimmen. Wollen wir bei der Entwicklung digitaler Produkte und Geschäftsmodelle gegenüber den USA und China aufholen, oder noch besser, einen neuen Entwicklungspfad einschlagen, gilt es sich jetzt auf unsere Stärken als Bildungsnation zu besinnen und Wissen neu für alle zu kreieren und neu für alle kollaborativ anzuwenden. Wenn wir es schaffen, dass sich jeder nur eine halbe Stufe höher qualifiziert, dann schaffen wir einen Sogeffekt, der wiederum alle Bildungsschichten ins Erwerbsleben integriert.

Für die SPD ist klar: Technologie muss sich den sozialdemokratischen Grundprinzipien von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit unterordnen. Wollen wir die Digitalisierung für weiteren sozialen Fortschritt nutzen, dann ist das Schlüsselelement hierfür ein Update von Bildung!

Für Krippe, Kindertagesstätte, Schule sowie berufliche Erstausbildung, Fach- und Hochschulstudium haben wir unsere bildungspolitischen Forderungen in den vergangenen Jahren ausführlich formuliert und setzen diese - dort wo wir in politischer Verantwortung sind - konsequent um. Bildung ist für den Einzelnen in den erwähnten Bereichen nahezu kostenlos geworden. Dies ist hauptsächlich ein Verdienst der Sozialdemokratie.

Jetzt gilt es, sich der Weiterbildung der über 45 Millionen erwerbstätigen Menschen in unserem Land zu widmen und hierfür sozialdemokratische Grundsätze zu formulieren. Unser Ziel heißt: Gleiche Start- und Zweitchancen für alle.

3. Forderung

Als SPD fordern wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Ein Recht, welches in Österreich, Belgien, Estland, Finnland, Frankreich, Ungarn, Italien, Japan, Litauen, Luxemburg, Norwegen, Polen, Slowakei, Großbritannien, Brasilien und Rumänen bereits existiert.

Es geht um einen Systemwechsel! Denn für die Weiterbildung gilt derzeit: Sie ist unstrukturiert und unübersichtlich. Wie andere Bildungsbereiche auch, braucht Weiterbildung gesellschaftliche Verantwortung und systematische Weiterentwicklung. Immer noch fehlen die institutionellen, finanziellen, zeitlichen, rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür, dass lebensbegleitendes Lernen ein selbstverständlicher Teil der Biografie eines jeden Menschen wird. Es braucht eine Selbstverständlichkeit, dass Arbeitsbiografien nicht kontinuierlich verlaufen. Bei den Bürgerinnen und Bürgern scheint dieses schon lange angekommen zu sein - sie sind offen für Neues. Zeit also für die Sozialdemokratie, dieser Offenheit endlich ein neues Angebot von lebensbegleitenden Lernen anzubieten!

Wir wollen erstens:

Sicherstellen, dass Produktivitätswachstum nicht nur zu mehr Kapitalwachstum führt, sondern auch zu mehr Zeitwachstum für Beschäftigte: für sich selbst, die Familie und die Gesellschaft. Als Sozialdemokraten setzen wir uns aber auch dafür ein, dass Produktivitätswachstum künftig mit mehr Weiterbildungszeit für alle verknüpft wird.

Bildung ist und wird mehr denn je der Schlüssel zum sozialen Aufstieg. Mit Weiterbildung gelingt nicht nur der individuelle finanzielle Aufstieg, sondern auch der des Staates. Denn die Rendite durch Investitionen in Bildung ist stets höher als Investitionen in Beton. Nur aus der Steigerung der Arbeitsproduktivität (durch Weiterbildung) lassen sich künftig auch höhere Löhne ableiten und setzen dem Niedriglohnsektor ein Ende. Höhere Löhne ermöglichen zudem noch mehr Zeitgewinn, eventuell für Teilzeit in der Erwerbsarbeit. Dies erhöht die Lebensqualität und erlaubt ein Mehr an Zeit für ehrenamtliches Engagement - ein Bereich, in dem bereits heute Gigantisches geleistet wird. Künftig soll die Stärkung der individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten und des Wissens im Vordergrund stehen. Verfolgen wir den Weg besserer Weiterbildungsmöglichkeiten, dann geht es in zehn bis 15 Jahren nicht mehr um Massenbeschäftigung um jeden Preis, sondern um qualitativ höherwertige und besser bezahlte Tätigkeiten für potenziell alle. Nichts verbinden wir Sozialdemokraten stärker mit Gerechtigkeit als Bildung!

Wir wollen deshalb zweitens:

Sicherstellen, dass neue individuelle Lebensrisiken, die sich durch den neuen technischen Fortschritt ergeben, wie in der Vergangenheit auch durch neue kollektive Lösungen abgesichert werden. In einer zunehmend wissensbasierten und komplexeren Gesellschaft, gilt es künftig zusätzlich gegen das Risiko von veraltetem Wissen und altmodischen soft-skills und damit vor Chancenlosigkeit abzusichern. Wenn in der digitalisierten Welt Daten das neue Öl sind, dann brauchen wir neue Bildungsfördertürme, um in der künftigen Datenökonomie bestehen zu können.

Wir benötigen ein Konzept, welches schnell greift und nicht erst lange individuelle Ansparzeiten durch Überstunden verlangt, ehe genügend Zeitguthaben für Weiterbildung vorgearbeitet wurden. Die Möglichkeit, freie - also arbeitsfreie - Zeit für Weiterbildung zu generieren, soll nicht in die Verantwortung des Einzelnen und seiner individuellen Mittel gelegt werden!

Wir fordern daher ein Recht auf Weiterbildung für alle, frei von zeitlichen und finanziellen Zwängen, garantiert durch ein kollektivistisches Solidarsystem! Alle sollen den gleichen Anspruch auf freie und bezahlte Zeit für Weiterbildung haben.

Bislang zahlen Unternehmen für die betriebliche Weiterbildung und die Bundesagentur für Arbeit übernimmt die Kosten für Arbeitslose oder für Beschäftigte, deren berufliche Tätigkeiten durch Technologien ersetzt oder die vom Strukturwandel bedroht sind und die damit arbeitslos werden könnten. Dieses System wird den zukünftigen Anforderungen nicht mehr gerecht. Und für den individuellen Bildungsaufstieg hat die SPD gegen viel politischen Widerstand bisher leider nur das Aufstiegs-BAföG (das frühere Meister-BAföG) durchsetzen können. Das ist zu wenig, wir wollen mehr! Wir fordern eine neue Sozialstaatssäule, die für die Arbeitsbefähigung durch Bildung sorgt - also eine Weiterbildungsversicherung. Mit ihr wandeln wir den Produktivitätsfortschritt in gesellschaftliche Zeitgewinne um. Wir organisieren bezahlte Zeitbudgets für Weiterbildung.

Dafür wollen wir kein neues Bürokratieungetüm erschaffen, welches zunächst einmal die Anspruchsberechtigung und die beihilferechtliche Relevanz der Förderung von Weiterbildung überprüft. Wir wollen keinen neuen Förderdschungel, keine Bevormundung durch Behörden, keine Fremdeinschätzung durch die vielen Experten, welches vermutlich die nächsten zukünftigen Arbeitsbedarfe werden - Wir wollen ganz einfach ein Recht auf individuelle Weiterbildung für alle! Für Menschen, die u.a.:

  • sich im Job weiterbilden wollen,

  • nach ihrer Weiterbildung wieder bei ihrem alten Arbeitgeber arbeiten wollen aber mit neuem Tätigkeitsprofil,

  • eine 2. Chance für ihre erste, abgebrochene Berufsausbildung benötigen,

  • mit ihrer Weiterbildung in eine neue berufliche Tätigkeit wechseln wollen,

  • durch familiäre Betreuungsphasen, längere berufliche Auszeiten hatten und nun keine Perspektive auf die Rückkehr in ihre alte berufliche Tätigkeit haben.

Lebenslanges Lernen soll nicht als zusätzliche Last oder Zumutung für die Menschen daherkommen. Neben der täglichen Erwerbsarbeit, der Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, dem Ehrenamt, Reagieren auf Verwaltungsakte und ein wenig Freizeit, die Weiterbildung auch noch oben drauf zu satteln, kommt für uns als SPD nicht in Frage. Weiterbildung muss mit dem persönlichen Lebensmodell vereinbar sein! Künftig soll es deshalb möglich sein, eine Weiterbildungszeit (in Voll- oder Teilzeit) in Anspruch zu nehmen, finanziert für den Einzelnen für bis zu vier Jahre auf dem Lohnersatzniveau des ALG I.

Wir wollen drittens:

als Stärkung der individuellen Gestaltung der Lebensbiografie, die zusätzliche Einführung eines individuellen Chancenkontos. Ab 2025 soll das Chancenkonto mit einem frei verfügbaren Guthaben in Höhe von mind. 5.000 Euro - im Sinne eines Sozialerbes - Bürgerinnen und Bürgern der Geburtsjahrgänge 2007 und jünger mit deutscher Staatsbürgerschaft zur Verfügung gestellt werden. Es soll im Laufe des Erwerbslebens für festgelegte Ziehungsrechte wie z.B. für nicht in der Weiterbildungsversicherung abgedeckte Fortbildungen oder die Umsetzung einer Gründungsidee genutzt werden können. Im Gegensatz zur neuen Weiterbildungsversicherung, soll das Chancenkonto ausschließlich aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Das progressiv ausgestaltete Einkommenssteuergesetz ermöglicht dabei z.B. eine stärkere Beteiligung von Vermögenden zur Finanzierung des Chancenkontos. Außerdem wollen wir prüfen, ob die hierfür jährlich erforderlichen Investitionen in einen staatlichen Kapitalfonds überführt werden können, um perspektivisch jüngeren Geburtskohorten höhere Auszahlungen zu sichern.

4. Begründung

Technologie lässt sich nicht aufhalten, aber ganz sicher lässt sich Technologie im Sinne der Bedürfnisse der Menschen gestalten! Hierfür sind Zusammenarbeit, Kooperation und das Verstehen von Zusammenhängen die zukünftig gefragten Eigenschaften. Nicht nur unsere Unternehmen müssen wettbewerbsfähig und innovativ bleiben, sondern unsere gesamte Gesellschaft muss die zukünftigen Herausforderungen meistern können. Der Schlüssel hierzu liegt in der Bildung, die neben Kenntnissen und Fertigkeiten auch soziale Kompetenzen umfasst. Bildung und Produktivität gehen seit jeher Hand in Hand. Im Lernen von heute liegt die gesamtgesellschaftliche Wertschöpfung von morgen!